Es gibt wohl kaum einen Jungen in China, der nicht schon bis spät in der Nacht unter der Bettdecke Schwertkampfromane gelesen hat. Diese Geschichten von verwegenen Helden und ihren Abenteuern sind der Stoff, aus dem jugendliche Phantasien gemacht sind: Schwertträger mit übernatürlichen Kräften, die auf hohe Mauern springen, über Dächer fliegen und überall dort auftauchen, wo Gerechtigkeit geübt werden muß. Und keine Schwertkämpferphantasie ist vollständig ohne mindestens ein unschätzbar wertvolles, mit magischen Kräften versehenes Schwert. Es kann eine mit ausgesuchten Juwelen besetzte Waffe oder ein einfaches Stück scheinbar wertlosen Metalls sein - aber eines ist ihm immer eigen: eine Klinge so scharf, daß sie, um es mit einer Standardphrase aus Schwertkampfromanen zu sagen, "durch Eisen fährt als wäre es Schlamm" oder, um ein anderes Klischee zu gebrauchen, "ein Haar in zwei Teile spalten kann".
Natürlich wachsen die meisten Jungen irgendwann aus ihren Schwertkämpferphantasien heraus. Sie wissen, daß es ihnen nicht vergönnt sein wird, über Hausdächer zu fliegen oder die Welt aus der Ungerechtigkeit zu erretten. Aber ein Element dieser Phantasien bleibt doch als ein Teil des wirklichen Lebens zurück: die Schwerter.
Chinesische Schwerter haben eine lange Geschichte, die bis in die westliche Chou-Dynastie (1122-770 v.Ch.) zurückreicht, und sie nehmen auch heute noch einen besonderen Platz in der chinesischen Kultur ein. Es gibt sie immer noch in Schwertkampfromanen und deren TV-Versionen, in der chinesischen Oper und auf alten Gemälden, in Tempeln, wo sie in zeremonieller Anordnung für die Götter bereitstehen, und selbst in Parks, wo Enthusiasten den Umgang mit dem Tai-Chi-Schwert üben.
In Parks wird auch heute noch die Schwertkunst praktiziert; allerdings meist mit Holzmodellen und nicht in Form tödlicher Zweikämpfe.
Trotz dieser Präsenz von Schwertern im täglichen Leben ist relativ wenig bekannt über ihre Geschichte; und es sind auch nur wenige Anstrengungen unternommen worden, alte chinesische Schwerter zu erhalten und auszustellen. Selbst in privaten Sammlungen sind sie nur spärlich vertreten.
Richard Shen(申威), Teilhaber der Silport Antique Co. in Taipei, glaubt, daß viele Sammler sich besser mit japanischen Schwertern auskennen; hauptsächlich, weil die Japaner Schwerter und die Schwertschmiedekunst als bedeutende kulturelle Errungenschaft betrachten . Das Nationalmuseum in Tokio z.B. verfügt über ansehnliche Räumlichkeiten für Schwerter und andere alte Waffen. "Die meisten Sammler wissen nicht, daß alte chinesische Schwerter von höherer Qualität als die japanischen sind", sagt Shen. "Wie sollten sie auch?! Es ist kaum etwas über sie bekannt, und es gibt nicht viele erhaltene Stücke."
Shen und der Geschäftsführer von Silport, Ching Li(李靖兒), haben erste Schritte unternommen, um das zu ändern. Kürzlich brachten sie einige Sammlungen - ihre eigenen eingeschlossen - zu einer Ausstellung seltener chinesischer Schwerter von der Sung- (960-1279) bis zur Ching- (1644-1911) Dynastie zusammen. Auch wenn im letzten November schließlich nur etwa zwanzig Waffen gezeigt werden konnten, war das nach Sammlermaßstäben schon viel. "Man wird wahrscheinlich nirgendwo anders die Gelegenheit haben, eine so große Sammlung in einem Raum zu sehen", sagt Ching Li, "nicht einmal im Nationalmuseum von Taipei."
Shen hofft, daß die Ausstellung ein Ansatz war, Sammler miteinander bekannt zu machen. Es stellte sich heraus, daß die meisten von ihnen in Berufen tätig sind, die in irgendeiner Weise mit Schwertern oder Messern zu tun haben. Viele sind Ärzte oder Generäle; aber für alle ist es schwer, an profundes Wissen über ihre Schwerter heranzukommen. "Durch Informationsaustausch" , sagt Shen, "können wir vielleicht mehr über diese wunderbaren und seltenen Gegenstände herausfinden."
In der Größe der Ausstellung spiegelt sich die geringe Anzahl der noch existierenden, alten chinesischen Schwerter wider. Um das Risiko von Rebellionen möglichst klein zu halten, verboten viele Kaiser im alten China Zivilisten, Waffen herzustellen oder zu besitzen. Viele der geschmiedeten Waffen wurden später von amerikanischen, europäischen oder japanischen Truppen mitgenommen, als sie China im 20. Jahrhundert verließen. Die meisten verbliebenen wurden in den späten 50er Jahren während Mao Zedong's "Großem Sprung nach vorne" eingeschmolzen, mit dem jener eine Kampagne zur Stahlproduktion in "Hinterhof-Hochöfen" initiierte. Die meisten der heute in Sammlungen befindlichen Waffen wurden entweder auf ausländischen Auktionen erworben oder aus alten Gräbern in Festlandchina ausgegraben.
Dieses Schwert aus der Ming-Dynastie mit seinen ineinander verschlungenen Schlangen und dem Totenkopf könnte eine Waffe gewesen sein, die im Rahmen eines Kults benutzt wurde. Da bis heute nur wenig Forschungen über chinesische Schwerter angestellt wurden, liegt vieles von deren Geschichte noch im Dunkeln.
Shen meint, daß chinesische Schwerter nicht nur unter den Stürmen der Geschichte zu leiden hatten, sondern daß sie auch von Gelehrten ignoriert wurden. Es gibt einige Untersuchungen zu den frühen Bronzeschwertern der westlichen Chou-Dynastie, aber nur wenige zu Eisen- und Stahlschwertern, die zum ersten Mal während der Frühlings- und Herbstperiode (770-476 v.Ch.) auftauchten. Wenn es um Stahlschwerter geht, wenden sich Forscher wie auch Sammler meistens nach Japan. Aber Shen beharrt darauf, daß chinesische Stahlschwerter von vorzüglicher Qualität und historischem Wert sind.
Einige Stücke der Silport-Sammlung aus der Sung- und der Ming- (1368-1644) Dynastie haben laut Shen Klingen, die sich mit denen moderner Waffen in jeder Hinsicht messen können. Vor allem die Ming-Schwerter sind aus exzellentem Stahl, mit einem Härtegrad zwischen 58 und 60. Alte japanische Schwerter liegen auf derselben Skala laut Shen nur zwischen 40 und 50. Heutige Küchen- oder Schweizer Offiziersmesser bringen es auf einen Härtegrad von 30 bis 40; und selbst aus dem besten modernen Stahl hergestellte Kampf- oder Jagdmesser liegen normalerweise nur knapp über 60.
Chinesische Schwerter sind auch wegen ihres natürlichen Wellenmusters wertvoll, das man nur auf hochklassigem Material findet. Diese als Damaszenerstahl bekannte Metallsorte sieht aus, als sei sie mit einer dünnen Ölschicht überzogen. Da viele alte chinesische Schwerter aus solchem hochklassigen Stahl gearbeitet sind, haben sie ihren Glanz und ihre Schärfe über einige Jahrhunderte behalten. "Es gibt fast keinen Rost auf ihnen", sagt Ching Li. "Einige sind so scharf, daß sie eine Kerbe in eine Münze ritzen können."
Die Kunst, solchen Stahl herzustellen, ist zusammen mit den meisten der besten Schwerter seit langer Zeit verlorengegangen. Was man weiß, ist, daß Schwertschmiede im alten China die meiste Zeit ihres Lebens neben einem Schmelzofen verbrachten. Von früh morgens an wiederholten sie immer und immer wieder denselben Prozeß: Zuerst erhitzten sie ein Stück Eisen bis es rot glühte, dann hämmerten sie es auf eine betimmte Länge, falteten es zusammen, tauchten es in Wasser, erhitzten es wieder rotglühend, hämmerten, falteten es usw. Auf diese Weise wurden die Unreinheiten des Metall Schritt für Schritt ausgemerzt. Um eine optimale Qualität zu erreichen, konnte derselbe Prozeß Hunderte von Malen wiederholt werden. Der Stahl eines Schwerterpaars der Silport-Sammlung, das in einem zur Zeit der Ming-Dynastie angelegten Grab gefunden wurde, war 900mal gefaltet worden.
Darüber hinaus waren die genaue Temperatur des Hochofens, die Kunst des Hammerschmieds und viele andere Faktoren für die Qualität des Produkts ausschlaggebend. Obwohl durch moderne Anlagen und Werkzeuge viele dieser Faktoren genau kontrolliert werden können, ist es immer noch schwer, einen Stahl herzustellen, der dem dieser frühen Schwertmacher gleichkäme. "Es ist einfach so", sagt Richard Shen, "aber ich habe keine Erklärung dafür."
Eine kunstvolle Verzierung von Griff und Scheide kann, nach Ansicht von Experten, ein Hinweis darauf sein, daß es sich um eine Zierwaffe handelte, deren Bestimmung es nicht unbedingt war, in einem Kampf eingesetzt zu werden.
Während professionelle Sammler die Qualität des Metalls schätzen mögen, sind Amateure vielleicht mehr an den Verzierungen djeser jahrhundertealten Waffen interessiert. Die Details auf der Scheide und dem Griff, manchmal auch auf der Klinge, wurden im allgemeinen aus Bronze, Silber, Gold oder Jade gearbeitet. Ein besonders fein gestaltete Stück, das bei der Silport-Ausstellung gezeigt wurde, stellt "hundert Kinder, die im Frühling spielen" dar. Der Stahl der Klinge stammt aus der Ming-Dynastie, die anderen Teile aus der Ching-Zeit. Wie der Name bereits andeutet, stellt die in die Bronzeteile der Scheide und des Griffs eingearbeitete Verzierung hundert Kinder dar, jedes von ihnen mit eigener Gestik und individuellem Gesichtsausdruck. Der Kopf einer jeden Figur ist aus Silber gearbeitet, das dann in die Bronze eingelegt wurde.
Manchmal finden sich sogar auf der Klinge eindrucksvolle Einlegearbeiten. Ein erhaltenes Stück weist ein Muster mit sieben Bronzesternen auf, von denen Shen sagt, es seien die Sterne des Totenreichs. Sie sind so sorgfältig eingearbeitet, daß es scheint, als seien sie zusamrnen mit dem Schwert geschmiedet und nicht erst später eingefügt worden.
Ausgefallene Schwerter wurden selten zum Kampf benutzt. Stattdessen wurden sie von hohen Regierungsbeamten als Symbole von Reichtum und Rang getragen. "Juwelen und phantastische Verzierungen waren auf dem Schlachtfeld keine große Hilfe", meint Shen. "Dort war der einzige Zweck einer Waffe: zu töten." Schwerter, die tatsächlich im Kampf benutzt wurden, sind von einem historischen Gesichtspunkt aus oft wertvoller, auch wenn sie weniger eindrucksvolle Verzierungen aufweisen. Ein solches Waffenpaar aus der Ming-Zeit hat nur einen einfach gemusterten Bronze-Teil auf der Scheide; dennoch ist es aufgrund zweier in den Griff geritzter Schriftzeichen - Tung Chang(東廠)-, die auf eine Geheimpolizeieinheit kaiserlicher Eunuchen verweisen, bedeutsam. Aufgrund einiger kleiner Einkerbungen an den scharfen Seite der Klingen glaubt Shen, daß die Waffen tatsächlich benutzt wurden.
Ein anderes Beispiel ist ein Schwert aus der Ming-Zeit, das nicht nur wegen seiner phantasievollen Verzierungen geschätzt wird, sondern auch weil es von dem Sonderbeauftragten der Regierung, Cheng Ho(鄭和), bei einer kaiserlichen Mission in Südostasien getragen wurde. Cheng Ho, der den Titel "Großer Eunuch" trug, war einer von Chinas berühmtesten Diplomaten. Seine zahlreichen Reisen führten ihn bis nach Arabien und Afrika. Dieses besondere Schwert hat einen Griff, der abgenommen und zum Beweis der hohen Position seines Trägers als Namensstempel benutzt werden konnte.
Auch die Form einer Waffe kann etwas über ihre Geschichte erzählen. Manchmal benutzten verschiedene militärische Einheiten selbst während derselben Dynastie unterschiedliche Schwert- oder Säbeltypen. Die während der Ming-Dynastie von den Tung-Chang-Agenten benutzten Waffen waren kurz und leicht, geeignet für den Nahkampf auf der Straße. Diejenigen, die von den Truppen des Generals Chi Chi-kuang(戚繼光), der sich bei der Vertreibung japanischer Piraten einen Namen machte, benutzt wurden, waren länger, schwerer und hatten größere Griffe. Dadurch konnten die Soldaten die Waffe, ähnlich einem japanischen Schwert, mit zwei Händen führen.
Wichtiger für ein gutes Schwert als alle Goldschmiedefertigkeiten war die Kunst der Stahlherstellung. Der Stahl dieser Klinge ist viele hundert Male gefaltet und von einer Qualität, die heute selbst mit modernen Mitteln kaum mehr erreicht wird.
Chen meint, daß Sammler, die sich nicht mit chinesischer Geschichte auskennen, den historischen Wert einer Waffe oft nicht einschätzen können. Er konnte deshalb sein Paar Tung-Chang-Schwerter günstig von einem ausländischen Sammler erstehen. "Er verkaufte es billig, weil es für ihn nur ein Paar vor einigen hundert Jahren in China hergestellter Schwerter war", erzählt Shen. "Hätte er den historischen Wert von Waffen der Tung-Chang-Agenten gekannt, hätte er sie wahrscheinlich überhaupt nicht verkauft."
Während Waffen für Soldaten oder Wächter normalerweise in großer Stückzahl hergestellt wurden, wurden andere individuell für ihre Träger geschmiedet. Oft kann man sich ein Bild von einer Person machen, wenn man ihr Schwert betrachtet. Es wurde entsprechend der Größe, Körperkraft, Links- oder Rechtshändigkeit und sogar gemäß der Persönlichkeit des Schwertträgers angefertigt. Bei der Entscheidung über die Schwertlänge kam jedoch immer noch ein anderes, grundlegendes Prinzip zur Anwendung: Sie mußte mit einer Zahl korrespondieren, die als glückverheißend für den jeweiligen Kaiser angesehen wurde.
Sonderangefertigte Schwerter wurden nicht nur von hochrangigen Soldaten getragen, sondern auch von Gelehrten zum Zeichen ihrer vornehmen Herkunft. Selbst Konfuzius trug ein Schwert. Die Schwerter von Gelehrten waren oft dünner und kürzer als solche, die in Schlachten geführt wurden, und einfach, aber elegant verziert.
Von Gelehrten wurden Schwerter wegen ihrer symbolischen Bedeutung geschätzt. Die Form z.B. ähnelt dem Schriftzeichen chung (中), das auch in dem Wort für "China" vorkommt. Die Form des Schwerts sowie auch sein Gebrauch in geradlinigen Bewegungen symbolisieren Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit. Aus diesem Grund werden Schwerter auch gewöhnlich in der Vertikalen aufbewahrt, während man andere Waffen eher horizontal legt. "Die Gerechtigkeit muß aufrecht stehen", sagt Ching Li. "Deswegen können Schwerter, als Symbol der Gerechtigkeit, nicht hingelegt werden."
Viele Sammler glauben auch an die Kraft von Schwertern als Talismane, sagt Shen. Sie besitzen ein Schwert nicht nur wegen seiner Schönheit oder seines historischen Werts, sondern auch weil sie glauben, daß es Böses fernhalten und die Familie beschützen kann. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum es so schwer ist, chinesische Schwerter zu erstehen. "Es ist in den meisten Fällen wohl Schicksal", meint Shen. "Es gibt Leute, die selbst nach Jahrzehnten der Suche kein zum Kauf angebotenes Schwert finden." Einer der hiesigen Sammler erinnert sich, daß es ihn ein volles Jahr kostete, einen anderen Sammler zum Verkauf eines Waffensatzes zu bewegen. "Es geht nicht ums Geld", sagt er. "Sammler verkaufen nicht, wenn sie nicht glauben, daß der Käufer die gleiche Leidenschaft und denselben Respekt für die Waffen hat."
(Deutsch von Christian Unverzagt)